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Multiresistenz


Multiresistenz

 

Sollte ich sterben,
wärst du der Defibrillator, der mein Herz reanimiert.
Nicht nur in meinen Gedanken verbirgst du dich,
sondern auch tief unter meiner Haut, in meinem Fleisch.
Eines Tages tut sich wohl ein Riss auf
und die Welt bricht hinter mir zusammen,
im Versuch, die endlose Schwere
meiner Hingabe zu tragen.

 

Sollte ich austrocknen,
wärst du der Speichel, den ich vom Boden lecke.
Nicht nur in mir blühst du auf,
sondern auch in der Schattenwelt, der du entstiegen bist.
Eines Tages wirst du wohl deine Dämonen befreien
und sie auf unser Leben hetzen,
um ihm das Lachen zu nehmen,
die Langeweile auszutreiben.

 

Sollte ich mit Öl übergossen werden,
wärst du der Funke, der mich in Brand setzt.
Sollte ich in Flammen stehen,
wärst du die Sonne, die erbarmungslos am Himmel steht.

 

Sollte ich eine Reisende sein,
wärst du der verspätete Zug, der unfreundliche Schaffner.
Nicht nur das Leichentuch unserer Verbundenheit trägst du mit dir,
sondern auch ein neues Lachen voller Hohn und Freiheit.
Eines Tages suche ich wohl den Rand der Welt
und springe ins leere All,
um mich dort meiner Gedanken an dich
für immer zu entledigen.

 

Sollte ich erkrankt sein,
wärst du die Indisposition, der multiresistente Keim.
Nicht nur in meinem Herzen sitzt du,
sondern auch unter meiner Haut, in meinem Fleisch.
Eines Tages schärfe ich wohl die Messer
und schneide dich aus meiner offenen Brust,
verstreue dich in feierlicher Manier
im Unrat der Gassen.

 

6 Kommentare
  1. Blaine
    Blaine sagte:

    … Verstreue dich in feierlicher Manier
    im Unrat der Gassen.

    Das musste ich jetzt ein paar Mal andächtig nachmurmeln. Wunderschöne Aneinanderreihung von Wörtern.

    Antworten
  2. Daryl
    Daryl sagte:

    Ich wollte mir echt ein paar Tage nehmen um das Gedicht ein bisschen in meinen Gedanken zergehen zu lassen, hab ich auch getan aber es fesselt mich irgendwie. Du hast ein unheimliches Talent harmonische Wortkompositionen zu schaffen, du verwendest Wörter die für andere Menschen in ein Gedicht gar nicht mehr reinpassen würden aber gerade so wie du es schreibst passt es perfekt. Da schüttelt sich mein Körper wieder, Gänsehaut richtet sich auf und ein Lächeln umspielt mein Gesicht. Es ist wirklich stetig faszinierend dich zu lesen.

    Mir gefällt das Thema unheimlich gut, etwas was wohl viele Menschen nachempfinden können.
    Ich habe mit einem Freund darüber gesprochen, er empfand den Text als gut er fragte sich nur wer diese Person hinter dem Gedicht sei. Da es in der ersten Hälfte recht “positiv” auszulegen wäre und danach so eine negative Wendung nimmt.

    Ich weiß nicht so recht, ich habe mir wieder ernsthafte Gedanken darüber gemacht.

    ” Sollte ich sterben, wärst du der Defibrillator, der mein Herz reanimiert.”
    &
    ” Sollte ich austrocknen, wärst du der Speichel, den ich vom Boden lecke.”

    Es klingt ja sehr stark nach einer Sache die man für das eigene Leben braucht um gerade zu überleben.

    ” Eines Tages tut sich wohl ein Riss auf und die Welt bricht hinter mir zusammen,
    im Versuch, die endlose Schwere meiner Hingabe zu tragen.”

    Ich kann mich irgendwie gut in dieses Gedicht reinversetzen, du beschreibst diese Hingabe für eine andere Person aber es wirkt für mich nicht so unsagbar positiv. Es umschreibt doch eigentlich mehr die Situation in der wir uns nach einer Person verzehren, uns so endlos sehnen dass wir daran vergehen könnten.

    z.B. ” Sollte ich erkrankt sein, wärst du die Indisposition, der multiresistente Keim.“

    oder ” Eines Tages schärfe ich wohl die Messer und schneide dich aus meiner offenen Brust.”

    Es spiegelt so eine Abhängigkeit wieder, eine andere Person die unsere Existenz ausmacht, nicht nur steckt diese in unserem Herzen sondern auch in bzw. unter der Haut, ist ein Teil von uns.
    Und eben diese Person kann uns auch so schnell zerstören oder in Brand versetzen, wenn wir es nicht schaffen uns davon zu distanzieren oder zu lösen.

    Natürlich ist es nur meine Interpretation :D aber dein Gedicht sagt mehr unheimlich zu.

    Antworten
  3. Polykristall
    Polykristall sagte:

    Wow, vielen vielen Dank für dein ausführliches und geniales Review. Ich kann deine Gedanken dazu sehr gut nachvollziehen und finde auch deine Interpretation passend und toll. Es geht um eine Art Abhängigkeit, genau. Eine Besessenheit, die sich erst durch bedingungslose und unendliche Hingabe ausdrückt, dann aber langsam in negative Gefühle ausartet, als die Person – das lyrische Ich – bemerkt, dass die Person, der sie so viel Liebe entgegen bringt, sie nur ausnutzt und sich an ihrer Hingabe nur erfreut, ohne irgendetwas zurückzugeben. Trotzdem ist Liebe/Verehrung ja nichts, das man abstellen kann. Und man ist zerrissen. Das ist ein sehr persönlicher Text, weil ich genau diese Zerrissenheit so gut kenne. Zu wissen, dass jemand unglaublich schlecht für einen selbst ist, und trotzdem nicht von ihm loslassen kann. Das liegt bei mir zwar schon in der Vergangenheit, aber ich kann mich trotzdem noch an jede Facette dieser Emotion erinnern, weil sie einfach so unverwechselbar und intensiv ist. Und am Ende bleibt nur noch Wut, die manchmal die einzige Emotion ist, die einem selbst genug Stärke geben kann, um diese Zeit zu überwinden, denke ich.
    Die letzte Phase fehlt dahingehend. Die angenehme Leere und trotzdem noch dieses fahle Überbleibsel, das man nicht loswerden kann. Als hätte man den Menschen aus seinem Herzen entfernt, aber sein Schatten würde noch immer da sein.

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