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Ich bin kein Gebirge

 
Es gibt Tage, an denen frage ich mich, warum mein Kopf unter all den Welten, die in ihm lasten, nicht zerbricht; unter all den Worten, Erinnerungen, Taten und Gedanken. Tage, an denen ich mich frage, warum wir nicht am Leben zerbrechen, an all dem, was es uns aufbürdet, an all den Forderungen, Erwartungen und Träumen. Denn tatsächlich bin ich mir darüber im Klaren, dass ich schon viele Male kurz davor war, an den Klippen der Realität zu zerschellen, bevor der Traum mich wieder einholen und in seinen Wogen bergen konnte.
Es gibt Tage, an denen ich mir vorstelle, jeder Mensch wäre ein Berg von bestimmter Höhe, bestimmter Größe, und das Leben wäre das Wetter, das an ihm nagt. Der Regen, der Steine und Schlamm hinfortspült, und der Wind, der Tag für Tag, Jahr für Jahr, an ihm zerrt und reißt. Manche Menschen sind wahre Gebirge, Riesen, an denen alles abprallt, egal, was ihnen widerfährt. Manchen gelingt es gar, unter ihren Lasten noch zu wachsen und sich gegen das Unwetter zu behaupten. Doch gehe ich davon aus, dass das Leben uns abträgt, dann erkenne ich, dass nicht jeder Mensch – wie ein hoher Berg – genügend Substanz besitzt, um es zu verkraften.
Manche Erlebnisse reißen Lücken in unser Gestein, einige schweißen sie wieder zusammen. Es sind Lücken, meist nicht viel größer als jene zwischen Worten oder Buchstaben, jene zwischen zwei Atemzügen, zwischen zwei Noten in einem Musikstück. Sie sind es, die den Unterschied zwischen Wir und Jetzt ausmachen, sie sind es, die Lachen von Tränen trennen, die Mut und Versagen voneinander unterscheiden.
Geht man davon aus, dass es Lücken gibt, die mit der Zeit gefüllt werden können, muss es auch Lücken geben, die immer weiter auseinander brechen, egal was man tut. Diese sind die Wunden, die – egal wie oft man sie vernäht – an den Rändern immer weiter ausfransen, immer weiter aufreißen, bis sie uns verschlungen haben. Diese Lücke ist die einzige, die ich nie füllen konnte, denn sie war von Anfang an da. Nicht der Raum zwischen dir und mir, nicht die Lücke zwischen mir und der Welt, mir und den Erwartungen. Es ist der Abstand zwischen mir und dem Leben, der egal, was ich tue, immer größer zu werden scheint.
Es gibt Tage, an denen ich mich dafür schäme, dass es mir schlecht geht. Tage, an denen ich mir selbst – wie alle anderen auch – einrede, dass ich es nicht verdient habe, mich so zu fühlen, weil es nur eine Phase ist, nur eine kurze Macke, die eben vorüber geht. Wie viele Menschen hört man heutzutage von Masken reden, wie viele von aufgesetzten Lächeln und inneren Tränen? Wie viele hohle Phrasen, die vielleicht nur wegen der schönen Worte oder der melancholischen Klänge von sich gegeben werden, ohne die Bedeutung zu kennen? So drücken sich inzwischen so viele den modischen Stempel der Depression auf ihre Gesichter, ohne die Emotion zu kennen, die wahrhaftig dahinter steht – die Lücke, die keinen Ursprung hat, und daher nie ein Ende finden kann.
Es ist Trauer, die von keiner Situation hervorgerufen wird, die kein Wort, keine Tat, kein Erlebnis als Grundlage kennt. Trauer um alles, den Tod, das Leben, das Universum und unseren Platz darin. Es ist Angst vor nichts Bestimmten und doch vor allem. Angst vor dem Sterben und dem Leben, vor den Emotionen und der Leere. Es ist Hass auf die Welt und alles, was in ihr lebt, und Liebe für alles, das wir erfahren und spüren dürfen. Und es ist die Entfernung. Diese unendliche Entfernung zum Leben, an dem wir teilnehmen, ohne es zu wollen, an dem wir teilnehmen wollen, ohne es zu dürfen. Wie gern würdest du leben und sehen wie andere sehen. Wie gern würdest du sterben, um nie wieder sehen zu müssen. Aber du hasst, du hasst, du hasst dich viel zu sehr, als dass du dir eine der beiden Optionen gewähren könntest – weder der Tod noch das Leben waren jemals für dich bestimmt. Du beobachtest es nur, von deiner Position aus, und fürchtest dich, darin einzutauchen, weil du tief in deinem Inneren weißt, dass du nie jemanden treffen wirst, der dich versteht.
Ich bin kein Gebirge. Ich bin kein Berg. Es gibt nichts, das mich abträgt, weil ich keine Angriffsfläche bilde, es gibt nichts, das mich zerschlägt, weil ich bereits zerbrochen auf die Welt kam. Da ist nur diese endlose Kluft zwischen mir und allem, die ich nicht in Worte zu fassen in der Lage bin, und doch habe ich noch nie etwas anderes als sie in Worte gefasst. Sie ist der Grundbaustein meiner Existenz. Sie ist die Grundlage all meiner Gedanken, all meiner Worte und Sätze, all meiner Geschichten und Welten.
Die Kluft trennt mich vom Leben und die Kluft trennt mich vom Tod. Vielleicht sollte ich hineinspringen, nur um zu sehen, was geschieht.
Ich bin kein Gebirge.
12 Kommentare
  1. Daryl
    Daryl sagte:

    Ich versuche die ganze Zeit die richtigen Worte für dich zu finden aber diesmal scheint es extra knifflig zu sein. Nachdem ich es vorhin gelesen hatte saß ich da erstmal. Nur ich und mein überlauter Herzschlag. Es war als wäre der ganze Lärm der Welt verstummt, als hätte sie sich für einen Augenblick aufgehört zu drehen. Deine Worte hallen durch meinen Kopf und ich versuche es noch richtig zu verarbeiten, es zu realisieren was du eigentlich geschrieben hast.

    Ich würde dir so gerne eine helfende Hand reichen, ich möchte dir immer eine helfende Hand reichen.

    “Ich bin kein Gebirge. Ich bin kein Berg. Es gibt nichts, das mich abträgt, weil ich keine Angriffsfläche bilde, es gibt nichts, das mich zerschlägt, weil ich bereits zerbrochen auf die Welt kam.”

    Es hört sich so endlos trist und leer an. Irgendwie stimmt es mich traurig. Ich kann das Gefühl nicht beschreiben. Ich finde einfach keine passenden Worte.

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  2. grenzen-los-zeit-los
    grenzen-los-zeit-los sagte:

    ein Gefühl ausgedrückt, was uns ALLE niemals, im ganzen Leben nicht, verlassen wird … und dennoch … es gibt Zeiten, da werden wir zu einem Gebirge, wachsen innerlich und äußerlich und Jeder kann es sehen … es sind die Zeiten im Leben, wo wir auf Grund der Erkrankung oder den Tod eines nahen, lieben Menschen so gefordert werden, dass uns alles, was uns bisher passierte wie ein kleiner Steinschlag vorkommt …ich lese immer und immer wieder Deine Worte und frage mich (wie so oft, wenn jemand schreibt) ob es Deine Situation ist, die Du beschreibst oder als Autorin eine tiefgreifende Lebenssituation (fiktiv) beschreibst …. ich hoffe es sehr !!!! Dein letzter Satz beunruhigt mich … mit einem ganz lieben Gruß Ursa

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  3. Yasemin104
    Yasemin104 sagte:

    Ein starker Text. Der Vergleich mit dem Gebirge und den Bergen ist dir echt gelungen. Aber Kopf hoch, auch, wenn du kein Gebirge bist und auch, wenn du kein Berg bist, irgendetwas ist jeder Mensch. Vielleicht bist du ein Hügel, aber dennoch hast du es schon so weit geschafft. Wer weiß, vielleicht werden wir alle irgendwann mal zu einem Gebirge.

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  4. Polykristall
    Polykristall sagte:

    Ja, du hast recht, vielleicht gibt es irgendwann etwas, aus dem wir kraft schöpfen und alle zum Gebirge werden können. Schön wäre die Vorstellung.

    Viele meiner Texte basieren auf fiktiven Situationen, bei vielen überschneiden sich meine Gedanken mit denen der Charaktere. Dieser hier ist aber vollkommen persönlich, vollkommen nicht-fiktiv. Er ist sozusagen meine Essenz, ich habe selten etwas Persönlicheres geschrieben. Deswegen fällt es mir auch sehr schwer, auf die Kommentare einzugehen, aber ich danke dir natürlich herzlich für den deinen.

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  5. Polykristall
    Polykristall sagte:

    Ich danke dir wirklich für deinen Kommentar und erwarte auch nicht, dass du seitenweise dazu schreibst. Es bedeutet mir einfach viel, dass du den Text gelesen hast. Das hilft schon, weil es der persönlichste ist, den ich seit Langem geschrieben habe. Es tut einfach gut, diese Gedanken endlich einmal zu teilen.

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  6. lichtwirrwarr
    lichtwirrwarr sagte:

    Einer der bewegensten Texte, die ich je las. Ein sehr interessanter Vergleich. Ich werde ihn noch 1-2x lesen müssen, um ihn wirklich zu verarbeiten. Eventuell habe ich dann einen etwas längeren Kommentar als: Die Worte sind ebenso wundervoll vom Stil, wie traurig in ihrer Bedeutung.

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  7. Polykristall
    Polykristall sagte:

    Wow, vielen, vielen Dank für deinen lieben Kommentar und generell fürs Lesen. Ich erwarte nicht, dass sich hier jeder an einem tiefen Interpretationsversuch versucht. Dieser Text ist sehr, sehr persönlich für mich, vielleicht ist es allein deswegen schon besser, wenn ihn niemand allzu sehr analysiert. Wichtig ist die Stimmung, die er vermitteln soll. Die Gefühle, die er teilt, weil ich sie direkt von der Seele geschrieben habe.
    Es freut mich, dass er dich bewegt. Danke.

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