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Wie egal man sich selbst werden kann


Heute trage ich einen Gedanken, der so schwer ist, dass ich ihn wie einen Stein aus meiner Seele schreiben muss, damit seine Last mein Herz nicht zu sehr krümmt. Heute bohre ich tiefer als sonst, um eine alte Last aus meinem Inneren zu ziehen, von der ich bisher nicht wusste, dass es sie gibt – dabei ist es nun, wo sie so klar und sichtbar vor mir liegt, unbestreitbar ist, dass ich mich ihrer lange hätte bewusst sein müssen: Ich bin mir selbst egal geworden.

Als Schlüssel zum Glück wird oft der Rat „Sei du selbst“gegeben. Sei natürlich. Sei einfach so, wie du bist. Das habe ich lange versucht. Ebenso lange, wie ich versucht habe, jemand anderes zu sein; nicht erzwungenermaßen, wie ich jetzt sehe. Ich habe nie versucht, jemand anderes zu sein, weil ich jemand anderes sein wollte. Ich habe es versucht, weil ich keine Ahnung hatte, wie es sich eigentlich anfühlt, ich zu sein.

Vielleicht leben zu viele Gedanken in meinem Körper. Zu viele Seelen und Geschichten. Zu viele Träume, in denen ich den ganzen Tag über wandle – zu viele Vorstellungen davon, wie das Leben sein könnte, wenn sich nur ein winziger Faktor änderte.  Daraus ergibt sich ein so eigenartig flüssiges und verschwommenes Bild meiner Selbstwahrnehmung, dass ich inzwischen nicht mehr weiß, ob sie wahr ist oder nicht – ob ich wahr bin oder nicht. Ob ich überhaupt einen Charakter habe, denn jeden Tag scheint er anders.

Es vergeht kein Tag, an dessen Morgen ich mich nicht fragen würde, wer ich bin – wohl wissend, dass diese Frage seit Anbeginn meiner Erinnerungen unbeantwortet blieb. Es vergeht kein Tag, in dessen Verlauf sich nicht mindestens einmal mein Gemüt unkontrolliert und unbeeinflusst von äußeren Faktoren so sehr um sich selbst drehen würde, dass ich mich selbst nicht mehr erkenne. Es vergeht nicht ein Tag, an dem ich nicht vor dem Spiegel stehen bleiben würde, um mich zu fragen, wie ich sein soll, damit ich bin wie ich bin – oder ob diese wirre Mischung aus allem und nichts tatsächlich ich sein soll.

Wie kann ich ich sein, wenn ich nicht weiß, wie ich bin? Ich bin unsicher und selbstbewusst, vorsichtig und aggressiv, lustig und ernst. Manchmal alles zur gleichen Zeit. Manchmal denke ich, ich bin der negativste Mensch der Welt und lache dabei. Manchmal denke ich, ich bin glücklich und hasse mich im gleichen Moment dafür. Manchmal spreche ich voller Enthusiasmus und möchte mich im gleichen Zug dafür entschuldigen.

Es vergeht kein Abend, an dem ich nicht darüber nachdenken würde, wer sich hinter diesen Augen versteckt, die mir aus dem Spiegel entgegen blinzeln. Aber ich bin und bleibe zu jeder Sekunde des Tages für mich selbst unberechenbar – und das auf eine so leidenschaftliche und emotionale Weise, dass ich schon vor langer Zeit daran zerbrochen bin. Denn wie soll es möglich sein, mit anderen Menschen zu sprechen, wenn du selbst so wenig weißt, was du sagen und wie du sein sollst? Wie soll es möglich sein, mit dir selbst zu leben, wenn nichts, das du empfindest, tatsächlich zusammenpasst?

Ich bin wie ein Schatten. Das Hin und Her meines unverständlichen Charakters hat mich müde und stumpf gemacht – das stellen der immer gleichen Fragen trägt mich Stück für Stück weiter ab. Die Enttäuschungen, die ich mir selbst immer wieder aufbürde, indem ich versuche, jemand zu sein, der ich nicht sein kann: Ich. Ich glaube, so jemanden gibt es vielleicht gar nicht.

Inzwischen nehme ich mich selbst in meiner Umwelt nur noch so wenig wahr, als wäre ich bereits ein Stück aus der Welt herausgerückt, um mich und alles andere nur noch aus der Ferne zu beobachten. Fragte man mich, was ich täte, wenn ich morgen sterben müsste … ich hätte nichts mehr zu sagen.

11 Kommentare
  1. Jimmy Krümel
    Jimmy Krümel sagte:

    Bei solchen Gedanken hilft nur die Erinnerung daran, dass man nicht alleine auf der Welt ist – auch wenn es manchmal danach aussieht. Verdammt danach aussieht! Wenn es der Sohn ist, für den man lebt .. die beste Freundin, die einen tröstet .. der liebe Cousin, der einen zum Lachen bringt .. dann lohnt es sich. Und durch solche Menschen, kannst du auch wieder zu dir finden. Nimm deine Umwelt wahr, konzentriere dich aufs Naheliegende : Freunde, Vogelstimmen, Straßenverkehr .. und mit diesen Eindrücken und Empfindungen findest du auch zu dir selbst wieder zurück. Auch wenn es nicht schnell geht.
    Liebe Grüße

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  2. Polykristall
    Polykristall sagte:

    Hi Jimmy, Mensch, vielen lieben Dank für deine schnelle Antwort und auch für deine Tipps. Vielleicht liegt mein Dilemma zurzeit auch verstärkt gerade daran, dass ich in einer vollkommen neuen Umgebung bin und wenige (eigentlich keine) Leute in meinem Alltag um mich herum habe, die ich besonders gut kenne. Vielleicht ist gerade deswegen dieser Druck, sich “charakterlich” zu beweisen noch etwas höher als normalerweise.
    Mal schauen, wie sich das entwickelt. Danke auf jeden Fall für deine lieben Worte!

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  3. Das Miau
    Das Miau sagte:

    Interessanter Text, denn ich habe solche Gedanken auch mal oft gehegt.

    Vielleicht klingt es komisch, aber niemand von uns ist jeden Tag der gleiche Mensch. Wir sind immer wer anders. Wir reagieren auf die Umwelt und die verändert sich auf ewig unaufhaltsam. Das was uns zu unserem individuellen Ich werden lassen, sind unsere Interessen und Mitmenschen, aber auch die ändern sich immer wieder.

    Ich habe mich besonders damit eine lange Zeit beschäftigt als es um meine Berufswahl ging, wo ich mir immer noch denke, dass ich für nichts geeignet bin und immer hinterfragt habe, ob das zu mir passt und ob das ich bin, aber ich habe mich nun einfach mit dem mir möglichen arrangiert.

    Aufgehört haben diese Gedanken als ich einfach angefangen habe zu akzeptieren, dass alles unbestimmt ist und ich das nur auf das reagiere, was in dem Augenblick relevant ist. Und als ich mich auf bestimmte Ziele einfach festfelegt habe.

    Weiß nicht, ob dich das aufbaut. Vielleicht, vielleicht nicht. Ich hoffe es aber. Liebe Grüße ^^

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  4. Frl. Zyx
    Frl. Zyx sagte:

    Ich bin mir sicher dass jeder schon mal solche Gedanken hatte. Das ist der innere Kritiker, der da spricht, der auch die Angst 'nicht zu sein' im vollsten Umfang heraus hängen lässt. Wenn du, wie bei dem ersten Kommentar, schreibst, dass du in einem neuen Umfeld und quasi alleine bist, ist es normal.
    Sehe das als Chance, um dich besser kennen zu lernen, um dich mal mit dich selbst auseinander zu setzen, es wird schon seinen Grund haben.
    Schreib dir Fragen auf, und beantworte sie. Was würdest du machen, wenn nichts dich aufhalten könnte, du dir über nichts Gedanken machen müsstest? Grab nach deinen Wünschen und Zielen, wenn du sie gefunden hast, ist zumindest ein Ziel gesetzt, und somit ein Sinn.
    Mir hilf es oft auch, mich zu informieren.
    Google doch mal dein Problem und schau was andere 'sagen' & denken.
    Hier öffentlich darüber zu schreiben ist doch schon mal ein Anfang, ein Hilfesruf.
    Alles Gute wünsch ich dir.

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  5. Polykristall
    Polykristall sagte:

    Hey, vielen lieben Dank für deinen Kommentar und deine aufmunternden Worte. Ich glaube, wenn man in einem solchen Tief ist, vergisst man manchmal, dass es viele Menschen gibt, denen es ähnlich geht und die sich genau so schlecht fühlen könnten, wie man selbst. Die diese Gedanken kennen. Ich gönne das wirklich niemandem, aber es fühlt sich doch gut an, zu lesen, dass ich nicht vollkommen allein mit diesen Zweifeln bin. Dein Kommentar hat mir wirklich geholfen und mich etwas aufgebaut. Vielen lieben Dank dafür.

    Viele Grüße, Marie

    Antworten
  6. Polykristall
    Polykristall sagte:

    Vielen lieben Dank! Es stimmt, dass es schon ein großer Schritt für mich war, es aufzuschreiben. Gedanken sind für mich meist erst richtig real, wenn ich sie aufschreibe – erst dann kann ich sie oft erst vollkommen erfassen. Gleichzeitig bereitet es mir eine gewisse Ruhe, sie von der Seele zu haben, sie zusammengefasst und geordnet zu haben, weil ich mich ihnen dann viel klarer stellen kann. Deine Worte helfen mir wirklich weiter und es ist ein gutes Gefühl, mit all diese Gedanken nicht so allein zu sein wie ich dachte. Ich habe früher viel öfter gebloggt und viel mehr über meine Gefühle gesprochen – vielleicht auch, weil ich da noch viel mehr Freunde um mich hatte (die nun wegen des Studiums und allem nicht mehr in meiner unmittelbaren Nähe sind). Erst jetzt merke ich wieder, wie gut und reinigend das für mich war – wie gut es tat, immer direkt alles von der Seele zu schreiben, das mich bewegt hat, weil hier draußen so viele sind, die diese wirren Gedanken verstehen können.
    Danke dafür!

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  7. Frl. Zyx
    Frl. Zyx sagte:

    Es von der Seele reden oder schreiben tut immer gut, und ist eigentlich auch der richtige Weg. Man sollte auch nie vergessen, dass es Menschen gibt, die auch gern bereit sind zu helfen. Und die es auch gut finden, wenn sie gebraucht werden, das macht Freundschaft aus, eben auch füreinander da sein.
    Und soweit wie ich es beurteilen kann, bist du nicht jemand der nervig herumheult, sondern sich einen Kopf um die eigenen Gedanken und deren Ausdrucksweise macht.
    Allein ist man eigentlich nie. :)
    Liebe Grüße..

    Antworten
  8. Serafina
    Serafina sagte:

    Huhu (:

    Auch ich kenne diese Selbstzweifel gut, diese blöde Frage, wer ich denn eigentlich bin. Und ich bin mir dabei nicht sicher, überhaupt nicht – und ich werde es wohl auch nie sein.
    Es stimmt, dass wir auf unsere Umwelt reagieren, aber nicht nur auf das, was sie tut. Wir reagieren auch auf das, von dem wir nur glauben, dass die anderen Menschen es von uns denken. Und das macht es wirklich schwer, zu entscheiden, wer man denn sein will.
    Auch wenn ich immer noch nicht weiß, wer ich bin oder sein will oder was ich am Ende meines Lebens alles erreicht haben will, so habe ich für mich entschieden, dass es alles sein kann. Alles, was ich will, kann ich sein. Ich kann es jetzt sein oder morgen oder in zwei Jahren. So lange ich es selbst will und mich nicht daran störe, dass ich es nicht immer bin, kann ich alles sein.
    Morgen zum Beispiel könnte ich eine Streberin in der Schule sein und übermorgen so müde, dass ich kaum ein Wort herausbringe. Alles möglich.
    Es kommt mir aber nicht mehr schlecht vor, jetzt, wo ich überlegt habe, dass ich steuern kann, wer ich bin (:

    Es freut mich zu sehen, dass es dir schon besser geht, nachdem du diesen Post geschrieben hast. Es stimmt, manchmal hilft es einfach, sich selbst vor Augen zu halten, was man eigentlich fühlt.
    Ich hoffe, ich verwirre dich nicht noch weiter, aber ich wollte gern versuchen, dir ebenfalls einen Weg zu zeigen, auf dem du zu dir selbst finden kannst. Vielleicht hilft er, vielleicht nicht, aber einen Versuch ist es wert.
    Im Grunde ist alles einen Versuch wert.

    Ganz liebe Grüße (:

    Antworten
  9. Polykristall
    Polykristall sagte:

    Hey ♥ Wow, vielen, vielen Dank für deine lieben Worte. Ich kann es nur noch einmal betonen, wie krass ich es finde, dass es so viele Menschen gibt, die sich schon Gedanken zu solchen Themen gemacht haben. Entweder ich habe einfach eine Leserschaft, die mir sehr ähnlich ist, oder ich bin doch nicht ganz so verrückt, wie ich immer denke.

    Deine Entscheidung klingt toll, finde ich. Und dein Kommentar hat mir wirklich geholfen, die Sache noch einmal aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Vielleicht kommt es mir ja nur so vor, als wäre ich die einzige, die keine Ahnung hat, wer sie ist – vielleicht geht es allen oder zumindest sehr vielen Menschen so und es ist ein ganz normales Gefühl, das man ab und an hat. Das hilft mir dabei, mich nicht mehr ganz so schlecht zu fühlen. Vielen Dank ♥

    Liebe Grüße
    Marie

    Antworten

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